Mittwoch, 17. September 2008

Der geliehene Tag (by Adele)

Es war vor langer, langer Zeit einmal so auf der Erde, daß die Tage einzeln vom Himmel kamen und immer ordentlich in der Reihenfolge. So wußte jeder Tag immer ganz genau, wann er dran war, auf die Erde herunterzugehen, und er konnte sich gut darauf vorbereiten. Nun gab es aber damals hinter dem Himmel, dort, wo die Tage ihr Zuhause hatten, oftmals eine große Rangelei und die jungen Tage, die noch sehr wild waren, wollten einander aus der Reihenfolge drängen. Das aber erlaubten die älteren weisen Tage, die alle Jahre wieder auf die Erde gingen, nicht, und sie hielten die ingestümen Kollegen zurück. Die Jungen mußten ja erst noch lernen, was überhaupt auf der Erde zu tun sei und immer, wenn eine Konferenz abgehalten wurde, alberten sie herum, machten ihre Späße und wußten alles besser. Die älteren Tage waren darüber sehr erbost und beratschlagten, wie sie die jungen Leute lehren könnten, ihre Aufgaben mit mehr Ernst zu erledigen. Alle scharten sich um einen 1. Januar herum, der schon seit Jahrhunderten Erfahrung hatte, viel gesehen und erlebt hatte und lauschten andächtig seiner Meinung. Der wiegte sein Haupt bedenklich hin und her, zog an seiner uralten Pfeife und schlug schließlich vor, eine Art Springer-Truppe zu gründen, deren Mitglieder immer dann auf der Erde einspringen sollten, wenn einer der vorlauten jungen Tage aussetzen mußte. Dieser Vorschlag fand bei den meisten älteren Kollegen großen Anklang, denn zu groß war der Verdruß über die junge Schar. Als der Vorschlag beschlossen war, trampelten alle anwesenden Tage so laut und ausgelassen auf dem Boden herum, daß der Himmel erzitterte und der Tag, der gerade Dienst auf der Erde machte, sich wunderte, weil er doch weder Donner noch Blitz oder Hagelstürme vorgesehen hatte. Im Gegenteil: Er war stolz, einen heißen, staubigen Sommertag hinterlassen zu haben, an dem die Menschen und die Tiere gar keine Freude gehabt hatten, weil fast alle Wasserläufe nicht mehr genügend Wasser führten. Doch, nach seiner Tagesmüh' ließ er sich an einem goldenen Seil in den Raum hinter dem Himmel ziehen und sackte stolz und erschöpft auf einen Sessel. Anderntags aber brach eine schwere Krankheit aus, ein Tag nach dem anderen mußte sich auf seine Schlafmatte begeben und konnte sich für seinen Dienst auf der Erde nicht abseilen lassen. Nur die jungen Kerle hielten der geheimnisvollen Krankheit stand, durften ja aber nicht allein auf die Erde und ihre aufregende Arbeit tun. Doch so mancher hatte Verbindung zu den Tagen einer anderen Organisation, die zwar unerlaubt war und deren Kontakte schwer geahndet wurden, sobald es einmal herauskam. Doch so ungestüm die jungen, wilden Tage noch waren, sie hatten bereits eine große Portion Verantwortungsgefühl und weil sie bei der Unpäßlichkeit ihrer Oberen, die eine richtig häßliche Epidemie wurde, die einzigen Gesunden waren, schmiedeten sie einen Plan: Derjenige, mit den besten Verbindungen zur Welt der anderen Tage, sollte dort seinen Freund benachrichtigen, damit wenigstens ein Tag auf die Erde ginge und die Menschen nicht alleine ließe. Und so geschah es denn auch, daß ein erfahrener Höllen-Tag auf die Erde ging, indem er eine lange, verrußte Treppe hinaufstieg und auf der Erde tat, was getan werden mußte. Im Raum hinter dem Himmel klatschten die Jungen vor Freude in die Hände, weil kein Tag verloren gegangen war und in dem großen Gehege unter der schwarzen Treppe waren alle Tage heiß und rot vor Stolz, daß einer von ihnen eine so wichtige Aufgabe wahrnahm. Alles verlief glücklich und noch bevor im Raum hinter dem Himmel die Ältesten wieder aufgestanden waren, war der Tag aus dem Saal unter der Treppe lange schon verschwunden und schlief drei Tage hintereinander, weil es so anstrengend war, einen Tag lang gut gewesen zu sein. Seit diesem Tag ist es öfter vorgekommen, daß ein Tag ausgeliehen wurde und alle sind gut damit gefahren und glücklich geworden. Und mir, ja, mir ist wohl seit dem Tag Himmel und Hölle so nah.

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